Tylar hat unser Leben auf den Kopf gestellt, wie es wohl kein anderes Kind vermocht hätte. Ich hatte mir so sehr ein Kind gewünscht, kein Versuch blieb ungenutzt, leider erfolglos. Ein Pflegekind aufzunehmen, war für mich eine daraus folgende logische Konsequenz. Einem Kind eine Chance auf eine positive Zukunft zu geben. Nach der Kontaktaufnahme zu einem Träger und einer Überprüfung unserer persönlichen Verhältnisse sowie unserer Motivation, erfolgte Mitte April 2014 eine theoretische Vorstellung unseres potentiellen Pflegekindes, zwei Wochen später lernten wir ihn persönlich kennen. In mein Tagebuch schrieb ich damals: „Erste Kontaktaufnahme: Tylar spielt, nimmt Kontakt auf, hält Blickkontakt, ist in der Lage, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, lächelt.“ Der erste Besuch bei der Bereitschaftspflegefamilie folgte wenig später und ich schrieb: “Tylar wirkt offen, lässt sich auf Kontakt ein, weißt Konzentrationsspanne auf, spielt, häufiger Blickkontakt.“ Im Nachhinein, alles ein wenig verklärt. Ich glaube, ich wollte so sehr ein Kind, dass meine sonst so verlässliche Objektivität stark litt. Es folgten weitere Besuche, verbunden mit einem zaghaften Beziehungsaufbau zu Tylar. Eine schöne und unbeschwerte Zeit. Erstes Wickeln, Spaziergänge zum Spielplatz und langsam entstehende Muttergefühle.

Tylar ist zum damaligen Zeitpunkt knapp zwei Jahre alt. Manchmal lautiert er, die Worte „Auto“ und (Ba-)“Nane“ kann er sprechen, nutzt sie jedoch selten adäquat. Auf dem Spielplatz klettert er viel und hoch hinaus. Ein intuitives Gefahrenbewusstsein scheint wenig oder besser gesagt gar nicht vorhanden zu sein. All das hätten wahrnehmbare, aber in der damaligen Situation nicht gewollte, Warnsignale sein können. Erste „Tests“ von Tylars Seite, in Form von Weglaufen, nicht hören etc., lassen nicht lange auf sich warten. In dieser unbekümmerten Situation gehe ich damit sehr entspannt um und sehe sie als positive Zeichen, als Zeichen eines beginnenden Beziehungsaufbaus an.

Im Juni 2014 ist Tylar das erste Mal bei uns zu Hause und schaut sich neugierig um. Wie oft saß ich bereits in seinem Zimmer und hatte mir die gemeinsame Zukunft, unsere Zukunft vorgestellt? Endlich mit einem Kind, mit meinem Kind! Zu diesem Zeitpunkt ist mir die vor uns liegende Zeit nicht im Geringsten bewusst, aber das Aufwachen sollte nicht lange auf sich warten lassen.

Tylars 2. Geburtstag feiern wir bei uns zu Hause, in seinem neuen Zuhause. Auf Tylar prasseln viele Reize ein, die er durch Aktivität zu verarbeiten versucht – alles wahrnehmbare Anzeichen für ein besonderes Verhalten, für eine starke Einschränkung und Steuerung seiner Wahrnehmung. Zum damaligen Zeitpunkt bin ich jedoch nicht bereit, irgendetwas anderes als das Kind, das bald zu mir gehören wird, zu sehen. Mit meiner damaligen Naivität denke ich, das Liebe, Verständnis und Struktur schon alles richten werden. Der Gedanke einer möglichen lebenslangen, schweren Beeinträchtigung ist nicht einmal in Ansätzen vorhanden.

Bevor Tylar bei uns einzieht, sehe ich, dass er sich ausdauernd und adäquat mit Spielsachen beschäftigen kann. Im Nachhinein verstehe ich, dass ich etwas sehen konnte, was gar nicht vorhanden war, denn man nimmt das wahr, was man wahrnehmen möchte. Der Bereich Spielen und sich (selbst) beschäftigen wird einer unserer größten „Problembereiche“.

Wir besuchen einen Streichelzoo und sind begeistert von Tylars Furchtlosigkeit, seine Händchen den Tieren entgegenzustrecken, sich geschickt und mutig auf den Klettergerüsten zu bewegen – wieder nehmen wir das Große und Ganze nicht wahr. Ja, furchtlos ist er, keine Anzeichen eines Gefahrenbewusstseins, nicht einmal Ansätze davon sind bei Tylar zu verzeichnen.

In der Anbahnungsphase schreibe ich von ausgeglichenen und entspannten Tagen; schnell ändert sich diese Wahrnehmung. Tylars Einzug erfolgt Ende Juni 2014. Was für eine unvorstellbare Veränderung für so ein kleines Menschenkind und für mich. Tylar wirkt oftmals aufgedreht, überreizt. In den Nächten ist er im Stundenrhythmus wach. Gegen 19:30 geht es ins Bett, 10 Minuten weint er, bis 20:00 wird geschlafen, bis 21:45 wird geweint, immer wieder Versuche, Tylar zu beruhigen, wenn ich das Zimmer verlasse, weint Tylar, bin ich in seinem Zimmer, erzählt er ununterbrochen und wird immer wacher, nehme ich Tylar in den Arm, will er runter….um 0:30 scheint er zu schlafen. Ich leider nicht, ich bin hellwach. 

Nicht nur er, sondern auch ich wirken tagsüber übermüdet und unausgeglichen. Soweit alles noch im Normbereich nach so einer riesengroßen Veränderung im Leben. Die gewohnte Umgebung, die Routinen sind weg, einfach weg und Neues tritt an ihre Stelle. Das dauert, kostet Zeit und viel, viel Energie. Rückschritte sind vorprogrammiert. Dieser Punkt war mir vor Tylars Einzug bewusst, dass er jedoch in der Folgezeit den Großteil des Tages aufgedreht, wenig zu beruhigen und so gut wie gar nicht verbal erreichbar ist, das war mir nicht bewusst. Bereits die FBB (Bereitschaftspflegestelle) gab an, dass Tylar Worte wie „Nein“, „Stopp“ so gut wie gar nicht wahrnimmt. Aber ich dachte natürlich, dass ich ja alles ganz anders und selbstverständlich besser machen würde. Ich versuchte Tylar „Nein“ nahe zu bringen, nicht das dieses Wort ein Eckpfeiler meiner Erziehungsversuche darstellen würde, vielmehr merkte selbst ich mit meinem verklärten Blick, dass Tylar sich in Gefahr bringt und das Wort „Nein“ einfach lernen muss. Ich sah durchaus Fortschritte in der Anfangszeit, ich war sehr kreativ, nutze Worte, Gesten, Pictogramme, Visualisierungen, denn ich bin ja Sozialarbeiterin und eine ziemlich gute noch dazu, dachte ich und bisher gab es nichts in meinem Leben, das nicht lösbar zu sein schien, Tylar belehrte mich eines Besseren!

Tylar wachte früh morgens auf, sehr früh morgens, ich meine wirklich sehr früh morgens….kuscheln – nein, danke, so beginnt der Tag. Alles verständlich bei seiner Vita, trotzdem schwer zu ertragen, denn ich möchte ihm doch so viel Liebe geben. Tylar schreit inzwischen viel, ist im Auto extrem laut – warum nur? Benötigt er Aufmerksamkeit? Aber er hatte doch den gesamten Tag über eine völlig übermüdete Eins-zu-Eins-Betreuung. Hat er Ängste, Unsicherheiten auf Grund der veränderten Lebenssituation? Fühlt er sich schon wieder verlassen, ein neuer, ein weiterer Beziehungsabbruch in seinem noch so jungen Leben? Fühlt er sich nicht verstanden? Wie auch, er ist so gut wie non-verbal! Keine Idee, was er überhaupt versteht. Wahrscheinlich ist es von allem ein wenig, noch lasse ich den Gedanken nicht zu, dass da noch mehr sein könnte. Auf dem Spielplatz beim Beobachten der anderen Kinder wird es mir jedes Mal vor Augen geführt, wie anders Tylar ist und sich verhält, aber noch will ich es nicht wahrhaben. Noch sind es die Veränderungen in seinem Leben, noch möchte ich glauben, dass sich alles fügen wird und wir nur Zeit und Verständnis und Geduld brauchen. Menschen mit denen ich über die Situation rede, sagen mir: „Das wird schon!“ , ein Satz, der uns wahrscheinlich wohlwollend und überflüssig den Rest unseres Lebens begleiten wird und mir zum damaligen Zeitpunkt noch Hoffnung gibt.

Wir suchen einen befreundeten Physiotherapeuten auf. Auf einmal steht der Verdacht „Autismusspektrum“ im Raum. Ich habe jahrelang mit Menschen im autistischen Spektrum gearbeitet, nein Autismus hat er nicht, aber ja, er scheint eine andere Wahrnehmung aufzuweisen, er ist kaum verbal, er nutzt Augenkontakt, scheint aber durch uns hindurch zu schauen, kein Folgen seines Blickes, wenn wir auf etwas zeigen, er wiederholt Abläufe und scheint diese manchmal fast zwanghaft beenden zu müssen, er scheint, keine/kaum Schmerzen zu empfinden und ein Hunger- oder Sättigungsgefühl scheint ihm unbekannt und er spielt NICHT.

Zu Hause beginnt es zu eskalieren, Tylar wirft eigentlich alles, was er in der Hand hat, herum. Die Spielsequenzen, die ich in der Anfangszeit noch beobachtet habe, sie sind nicht mehr da…waren sie es je? Hat Tylar je gespielt und kann es jetzt nicht mehr? Oder waren es einfach neue Objekte bei uns zu Hause, die durchaus seine Neugierde für einen Moment fesseln konnten, nun aber uninteressant geworden sind, da er sie jetzt kennt. Tylar beginnt nach mir zu treten, nach mir zu schlagen, nicht nur eine Brille ist in der Anfangszeit zu Bruch gegangen. Mir fällt ein, dass die FBB meinte, Tylar trete die Pflegemutter oft. Ist es ein Mann-Frau-Ding? Mein Mann bekommt lange nicht so viele Aggressionen ab oder bin ich einfach zu viel mit Tylar zusammen und biete daher mehr Reibungsfläche? Muss er etwas in Bezug auf seine eigene Mutter verarbeiten, ja ganz offensichtlich, er ist ein Pflegekind und hat bereits mehrere Abbrüche erlebt. Bin ich einfach zu ungeduldig, vielleicht enttäuscht, da er meine Nähe oft ablehnt und ich mir doch so sehr ein Kind gewünscht habe? Ich ihm doch so gerne meine Liebe geben möchte? Erwarte oder verlange ich einfach zu viel?

Auch hierbei trifft sicher alles ein wenig zu, aber da ist noch mehr. Ich werde das Gefühl einfach nicht los, das Tylars Verhalten sich nicht im Normbereich bewegt.

Ich versuche weniger emotional und pädagogischer zu sein und stehe vor so vielen Rätseln. Tylar scheint immer etwas haben zu wollen, es ist nie genug, auch das ist bei seinem Lebenslauf durchaus nachvollziehbar, macht das alltägliche Zusammenleben jedoch nicht einfacher. Warten und Geduld scheinen nicht Tylars Stärke zu sein. Dazu kommt eine sehr geringe Frustrationstoleranz und eine enorme Ablenkbarkeit. Die Tage sind sooooo lang und es gibt wenige Pausen zur Erholung. Tylars anfängliche Konzentrationsspanne liegt bei 7 Sekunden, um sich mit einem Spiel zu beschäftigen – 7 Sekunden, da werden Minuten zu Stunden und Tage scheinen schier endlos. Alleine kann er sich überhaupt nicht beschäftigen. Einfachste Anleitungen scheinen nicht wahrgenommen oder nicht umsetzbar zu sein. Meine Kraftreserven neigen sich dem Ende entgegen – Tylar ist nunmehr 10 Tage bei uns. 

Die Umwelt reagiert mit Unverständnis. Ich wollte doch ein Pflegekind, vielleicht sei ich mit meinen knapp 40 Jahren zu alt und habe die notwendige Energie einfach nicht mehr, ob ich mich denn auf Tylar einlasse und seine Bedürfnisse in einer ihm noch immer unbekannten Umgebung mit neuen Regeln wahrnehme, ob ich nicht einfach nur übertreibe – 7 Sekunden Konzentrationsspanne, warum ich ihn nicht einfach alleine spielen lasse und ob ich das Spielzeug auch wechsle, damit es abwechslungsreicher gestaltet sei….ich könnte schreien, aufgrund von so viel Unverständnis und ahne, dass das nur die Spitze des Eisberges ist.

Schrittweise sind erste Veränderungen, in einer für mich positiven Entwicklung, zu beobachten – das auf den Boden werfen, den Kopf auf den Boden schlagen, das Weinen, das Spucken, das Treten nach mir lassen schrittweise nach. Kurze Auszeiten scheinen eine positive Wirkung auf Tylars Verhalten zu haben. Nach knapp zwei Monaten bei uns, wacht Tylar das erste Mal mit den Worten „To“ (Thomas) und „An“ (Annette) auf, anstelle von „Ball“:) wir sind überglücklich.

Im Februar 2015 schreibe ich in mein Tagebuch: „Habe lange nicht mehr geschrieben…….und soooooo vieles hat sich verändert. Tylar scheint Schritt für Schritt bei uns anzukommen; er hat immer wieder seine Aus- und Anfälle, aber er ist soooooo viel besser zu lenken, der süße Fratz. Er spricht so viel nach und sein Wortschatz hat sich enorm erhöht. In der Spielgruppe läuft es super. Teilweise beginnt er adäquat mit Spielsachen zu spielen, natürlich benötigt er weiterhin ständige Supervision, aber nichts verglichen mit früher:)“

Zu diesem Zeitpunkt haben wir bereits ein Diagnoseverfahren durchlaufen. Im Juli 2014, also einen Monat nach Tylars Aufnahme, erfolgte ein Termin im SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum). Eigentlich sollen Diagnosen in verschiedenen Einzeleinheiten erstellt werden – bei uns sah es ein wenig anders aus. Als Tylar das Zimmer der Ärztin betrat, begrüßte sie uns mit den Worten: „Na, da haben wir ja ein FASD-Kind.“. Nun kann man geteilter Meinung sein, ob es sich hierbei um eine ausgewogene Diagnoseerstellung handelt und man der Pflegemutter eine solch schwerwiegende Beeinträchtigung anders hätte vermittelt sollen…für mich stellt sich eine ganz andere Frage, wenn aufgrund von Tylars Gesichtsmerkmalen eine Diagnostizierung mit FASD so eindeutig war, wieso erfolgte diese erst im September 2014, initiiert von der neuen Pflegefamilie. Ach ja, ein beeinträchtigtes Pflegekind ist ja schwieriger zu vermitteln. Trotzdem hätten wir uns gerne bewusst für Tylar mit seinen Beeinträchtigungen entschieden. Um ganz ehrlich zu sein, in meinem damaligen „Wahn“ mit dem steten Wunsch nach einem Kind, hätte ich mit großer Wahrscheinlichkeit auch ein beeinträchtigtes Kind aufgenommen. Nur ein wenig mehr Ehrlichkeit oder wenn ich den Vorsatz wegnehme, einfach nur ein wenig mehr Hinschauen hätte allen Beteiligten gutgetan. Auch ich nehme mich dabei nicht raus, auch ich oder gerade ich hätte genauer hinsehen müssen.

Im Zuge der Diagnostik und auf mehrfaches Drängen meiner Seite hin, sieht das Jugendamt, dass Tylar ein „erziehungsintensives“ Kind sei und gewährt ein zusätzliches finanzielles Betreuungsbudged für absolut notwendige Auszeiten meinerseits. Zudem kommt der MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) zur Erstellung eines Pflegegrades. Es werden vollkommen sinnfreie Fragen gestellt, ja ich weiß, es handelt sich um ein standardisiertes Verfahren, aber wir haben ein hyperaktives, sogenanntes „bewegungsfreudiges“ Kind, wieso wird sich da unsere Duschtasse angeschaut und gefragt, ob sie ebenerdig ist oder ob man rein steigen muss und ob Tylar bereits auf einen Stuhl klettern kann….ja, kann er und auch auf die Heizung und die Fensterbank und den Duschvorhang hinauf und wenn er möchte auch noch viel höher hinaus! Apropos Gefahrenbewusstsein, Tylar ist knapp 2 ½ mit einer Körpergröße von 86 cm und auf dem Spielplatz von einer gut 3 Meter hohen Plattform gesprungen, mit gerade 3 Jahren springt er im Schwimmbad vom 3-m-Turm, mit 5 Jahren vom 10er. Andere scheinen das mutig zu finden, dass da ein gerade 3-jähriger Knirps (der höchstens wie 2 ausschaut) mit Schwimmwindel aus drei Meter Höhe ins Wasser springt, ich finde es Wahnsinn. Ich kann es nicht verhindern, ich kann nur versuchen, einen möglichst sicheren Rahmen zu erschaffen. Wir haben Glück, die meisten Unfälle verlaufen glimpflich. Tylar verletzt sich kaum schwer. Trotzdem kennt uns jeder der ständig wechselnden Ärzte der Notaufnahme unseres Heimatortes, Tylar wird beim Betreten des Krankenhauses mit Namen begrüßt.

Beim Zerstören von Sachen stehe ich ein hilflos daneben. Ich habe keine Idee, warum er das tut und vor allem habe ich keine Idee, wie ich es stoppen könnte. Hilflosigkeit, Verzweiflung, Wut, Versagen machen sich breit, neben dem Gefühl, immer nur müde zu sein. Wir haben ein finanzielles Budget für Entlastungszeiten erhalten und manchmal habe drei freie Stunden, die einzig und allein für meine Erholung gedacht sind, doch wenn ich Tylar abhole, ist meine Energie nach Minuten verschwunden. Meine guten Vorsätze, entspannter an alles ranzugehen, sind wie weggeblasen. Ja, vielleicht ist die Aufgabe einfach zu groß für mich und ich nicht die Idealbesetzung. Auch heute noch gibt es viele Momente, die mich absolut an meine Grenze bringen. Unsere sozialen Beziehungen leiden stark mit der Aufnahme eines beeinträchtigten Pflegekindes. Es macht sich eine schleichende soziale Isolation breit. Die bestehenden Kontakte werden auf eine harte Probe gestellt und viele halten es einfach nicht durch. Die eigene Fähigkeit, die Kontakte aufrecht zu erhalten, sind eingeschränkt, da ich immer nur müde bin.

Daneben gibt es auch viele schöne Momente. Wir sind im Jahr 2016, Tylar ist inzwischen vier und er beginnt mit Drei-Wort-Sätzen. Sein Wortschatz hat sich enorm erhöht. Ein ganz klein wenig hört er sogar auf verbale Anweisungen. Ende 2016 schreibe ich in mein Tagebuch: „Die ersten Drei-Wort-Sätze, man waren wir stolz, jetzt würden wir uns freuen, wenn Tylar einfach mal ruhig wäre und nicht ständig sabbeln würde!!!“ 🙂

Entwicklungstechnisch hat er sich super gemacht und viel aufgeholt. Im sprachlichen Bereich merkt man es hauptsächlich noch an seiner verqueren Grammatiknutzung, die sehr individuell und kreativ ist. Motorisch klettert und springt und rennt Tylar, absolut phänomenal. Sehr gefährlich, aber schon irgendwie beeindruckend. Feinmotorisch hat er ebenfalls enorme Fortschritte gemacht. Also nichts mehr mit einem Jahr Entwicklungsverzögerung…laut Tests ist er in diesen Bereichen nur noch 2 Monate zurück, na das ist doch fast gar nichts mehr!! Die Realität holt uns jedoch schnell ein…IQ-Tests folgen. Tylar kommt auf ein sehr inhomogenes Intelligenzprofil mit einem IQ von 69, damit ist er geistig behindert. Für mich ist das wie ein Schlag. Mein Kind geistig behindert?!?! Wir lassen dies so stehen und eigentlich hat sein IQ für ihn und uns wenig Bedeutung, da er sein Wissen, das bereits Gelernte oftmals nicht abrufen und vor allem nicht auf andere Situationen übertragen kann.

Das Leben nimmt seinen Lauf – im Sommer 2016 beginnt Tylar einen neuen Lebensabschnitt im heilpädagogischen Kindergarten. Ich bin so froh. Das Konzept und der Betreuungsschlüssel sind hervorragend und voller Zuversicht starten wir in diese Phase. Zur Anfangszeit ist es, vor allem durch meine Entlastung, wie ein Lottogewinn. Nach anfänglichem großem Verständnis und Zuhören, zeigen sich erste Überforderungsanzeichen des pädagogischen Personals. Mehrfach werde ich angerufen und muss Tylar wegen seines Verhaltens aus dem Kindergarten abholen. Ich bekunde mein Unverständnis, denn ist Tylar nicht gerade aus diesem Grund in einem heilpädagogischen Kindergarten? Differenzen zwischen dem Kindergarten und uns, hauptsächlich mir, denn mein Mann ist eher der Vermittlertyp, lassen nicht lange auf sich warten. Mir wird bei einem gemeinsamen Frühstück vorgeworfen, Tylar keinerlei Strukturen zu geben und das er daher keine Fortschritte mache und sein Regelverständnis unterrepräsentiert sei. Der Angriff auf meine Rolle als Pflegemutter sowie in meiner Profession sitzt tief, ist aber nur ein Vorgeschmack auf die Zukunft. Häufig wird uns dies noch begegnen. Verweise auf seine offiziellen Diagnosen werden oftmals mehr oder weniger negiert und das sogar von Seiten der Professionellen, wie Erzieher oder Ärzte.

Da ich Tylar trotz Kindergartenplatz teilweise betreuen muss, ist ein Wiedereinstieg in mein Berufsleben nicht möglich. Ich bin frustriert. Ich arbeite jahrelang als Sozialpädagogin, die Arbeit machte mir Spaß und ich hätte sofort meinen alten Job wiederbekommen können. Nun bin ich Hausfrau und Mutter, mit einem stark verhaltensauffälligen Kind. Auf der anderen Seite ist es schön zu sehen, wie sich Tylar entwickelt. Manchmal kommt er morgens ins Schlafzimmer und kuschelt, das wäre früher undenkbar gewesen. Bindungstechnisch hat sich erstaunlich viel getan und das trotz Diagnose FAS und seiner Pflegekindvergangenheit.

Wir schreiben das Jahr 2017….Tylar hat sich unglaublich verändert. Er beginnt inzwischen ein wenig selbst zu spielen und beschäftigt sich teilweise 5 Minuten alleine. Das ist phänomenal für mich. Ich kann auf die Toilette gehen und einen Kaffee machen und er ist im Wohnzimmer. Anziehen, Zähneputzen und all die alltäglichen Dramen laufen inzwischen relativ unspektakulär ab. Auch das Schlafengehen ist entspannter. Noch immer dauert es, aber es läuft ruhig ab, die Kämpfchen scheinen vorerst vorbei zu sein. Manchmal schläft er sogar durch. Die Nächte mit drei- bis fünfmal aufstehen, gehören hoffentlich der Vergangenheit an….

Bei der schulärtzlichen Untersuchung bemerkt die Amtsärztin zunächst nicht mal, dass Tylar eine Beeinträchtigung aufweist. Als ich die vorhandenen Diagnosen anspreche und unsere Sicht, das er auf einer Förderschule unterrichtet werden soll, da er alleine die Klassenstärke einer Regelschule nicht aushalten wird, ist das Ergebnis eindeutig – Förderschule. Die in unserem Wohnort befindliche und favorisierte Schule, die sowohl lern- als auch sozial-emotional beeinträchtigte Kinder aufnimmt, lernt Tylar kennen und lehnt dankend ab. Damit bleibt die ganzheitliche Förderschule.

Tylar ist inzwischen fast neun. Corona hat vor über einem Jahr begonnen. Wir haben ein zweites Pflegekind aufgenommen und ich erlebe mich das erste Mal als Mutter, die lenken, die beeinflussen, die erziehen kann, ein unsagbar schönes Gefühl. Wir werden gemeinsam noch viele Höhen und Tiefen meistern und ich bin gespannt, wo uns die Reise hinbringen wird…

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